Die Holzskulptur des heiligen Martins irritiert. Ein prächtiges Pferd, ein prächtiger Martin, ein prächtiges Schwert, doch es fehlt etwas, es fehlt etwas Wichtiges, Entscheidendes: der Arme, der Bettler.
Fehlt hier jemand?
Bei aller Pracht und Kunstfertigkeit der Schnitzerei war für den Armen scheinbar kein Platz, keine Zeit mehr. Mal wieder: der Bettler, an den Rand gedrängt, aus dem Blick verloren. Und so wirkt die Geste des Heiligen hohl, fehlt doch seiner Nächstenliebe der Adressat. Oder ist sie Spiegelbild nicht ausgesprochener Wünsche: Ja, ich helfe gerne, aber doch bitte ohne Kontakt mit dem Elend, mit Dreck und schlechten Gerüchen?
Mit offenen Augen
Ich weiß nicht, was den mittelalterlichen Künstler zu dieser Darstellungsweise bewegt hat. Vielleicht sehen wir heute auch nur noch einen Teil der Skulptur, doch so, wie sich das Kunstwerk heute präsentiert, widerspricht es allem, wofür Martin steht. Das Entscheidende in der weltbekannten Szene im Stadttor von Amiens ist ja nicht, dass ein Mantel geteilt wurde, sondern dass ein Armer, ein Erniedrigter, gesehen wurde und so Ansehen gewonnen hat. Nicht hoch zu Ross über die Köpfe und das Schicksal der Menschen hinweg reitet der Soldat, Repräsentant der Machthaber, sondern mit offenen Augen und offenem Herzen. Darin ist uns Martin ein Vorbild. Wir brauchen für heutige Amiens-Erlebnisse kein Schwert und keinen Mantel, sondern einen wachen Geist und ein liebendes Herz. Dann begegnet uns Christus doppelt – in dem Leidenden und in der Liebe, die wir in uns haben.
Ein anderer Blickwinkel
Oder aber – ein ganz anderer Blickwinkel: Bin ich selbst, der Betrachter, der Arme, der Hilfsbedürftige, der gesehen werden möchte? Dem der halbe Mantel Zuwendung, der halbe Mantel Aufmerksamkeit, der halbe Mantel Liebe fehlt?
Diese Fragen führen zu einer grundlegenderen Frage: Kann ich mir und anderen meine Bedürftigkeit eingestehen? Meine Schwächen? Oder bin ich lieber immer der Starke, der, der hoch zu Ross ist? Eine jahrhundertealte Szene aus Amiens und ganz aktuelle Fragen.
Mit freundlichen Grüßen
Michael Tillmann
Seit fast dreißig Jahren Redakteur, Lektor und Marktmanager für den Bereich Kirche im Bergmoser und Höller Verlag AG.

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