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Gott im Alltag – Achtsam auf den Willen anderer

© Gerhard Zinn

Der Leiter einer Demenzstation in Marl (NRW) hat für sein Haus eine besondere Idee: die „Gammel-Oase“

Nach Regeln leben?

Wer sagt denn, dass man immer nach Regeln leben muss. Dieser Gedanke kommt dem Leiter der Demenzstation in einem Heim in Marl, Nordrhein-Westfalen. Wenn er auf den Fluren ist, bemerkt er manchmal, dass Bewohnerinnen und Bewohner sich Regeln verweigern: Aufstehen, Anziehen, Essen, Bewegen. Sie sagen „Nein“ und bleiben liegen oder sitzen. Da kommt ihm eine Idee: Wer sagt denn, dass man immer nach Regeln leben muss – und er richtet im Aufenthaltsraum eine von ihm so genannte „Gammel-Oase“ ein. Jede und jeder kann dort tun und lassen, was er oder sie will. Schlafen, Essen, in den Garten gehen – nach Lust und Laune.

Das Fernsehen zeigt, wie das meistens gelingt. Wenn es Streit gibt, schreitet erst einmal niemand ein. Wer im Bett bleiben will, soll es tun. Wer nicht geduscht werden möchte, darf es bleiben lassen. Der Leiter der Station ist zufrieden. Er sagt aber auch: Die Pflegekräfte sind unterschiedlicher Meinung. Manche finden es gut, andere hätten lieber, dass Regeln eingehalten werden. Die Tochter einer Bewohnerin ist begeistert. Sie sieht, wie zufrieden ihre Mutter neuerdings ist.

Den Willen lassen

Vermutlich wissen alle, welch großes Problem die Demenz von Menschen ist – und wie viel größer das Problem wohl noch werden wird. Da ist der Einfall des Leiters nur ein winziger Hinweis, ob und wie man es anders versuchen könnte. Er möchte den Bewohnerinnen und Bewohner ein wenig von ihrem Willen lassen. Von einem Willen, den es ja weiter gibt, auch wenn andere ihn nicht immer verstehen. Er möchte niemanden zu etwas nötigen, was er oder sie gerade nicht will. Wer mitten am Tag im Sessel schlafen will, soll das tun. Und dann vielleicht erst um drei Uhr nachmittags zu Mittag essen.

Niemand macht es sich leicht

Es gibt einen geheimnisvoll schönen Satz der deutschen Schriftstellerin Gabriele Wohmann (1932–2015). In einer ihrer Erzählungen sagt eine ältere Frau zu ihrer Tochter: „Unser Herr Jesus hat alle Leiden dieser Welt auf sich genommen – nur die des Alters nicht.“

Dieser Satz stimmt. Jesus wurde nicht alt und erlebte nicht, was Alt sein bedeutet – wenn der Körper vielleicht kräftig ist, die Sinne aber verrutscht sind. Wenn Angehörige vor der schweren Frage stehen: Schaffen wir es zu Hause noch mit Mutter oder Vater? Sollte eine Betreuung im Heim folgen?

Niemand macht es sich leicht mit diesen Fragen. Wir können nur für uns und andere darum beten, rechtzeitig die beste Entscheidung zu treffen. Und hoffen, dass es in den Heimen Menschen gibt, die einfühlsam sind und denen so etwas wie eine „Gammel-Oase“ einfällt. Auch wenn es sich vielleicht nicht überall durchsetzen lässt, sollten wir doch wissen: auch Demente haben einen Willen. Möge er – so gut es eben geht – geachtet werden.

Mit freundlichen Grüßen

Pfarrer Michael Becker

Pfarrer im Rundfunk und Herausgeber der WERKSTATT für Liturgie und Predigt im Bergmoser & Höller Verlag.
Autor Pfarrer Becker

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