Weihnachtsgedanken über einen unscheinbaren Gott
„Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott. Im Anfang war es bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.“ So beginnt der Evangelist Johannes seine „Weihnachtsgeschichte“. In einem viel größeren, kosmischen Kontext.
Er beginnt zeitlich weit vor dem, was wir Weihnachten feiern: „Im Anfang …“ Was der Evangelist Johannes schreibt ist – so glaube ich – weit weg von dem, was die meisten von uns zu Weihnachten vor ihrem inneren Auge haben; ist weit weg von dem, was Sie auf dem Bild – ein Altarbild aus der Erfurter Predigerkirche – sehen. Die angedeutete Ruine im Hintergrund erinnert eher an Niedergang als an einen Anfang.
Doch das mittelalterliche Kunstwerk illustriert meiner Meinung nach nicht nur die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukasevangelium, sondern auch den Johannes-Prolog. Denn wenige Verse nach dem gerade zitierten Beginn schreibt Johannes: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht.“
Der letzte Halbsatz ging mir spontan durch den Kopf, als ich dieses Weihnachtsbild zum ersten Mal sah. Denn beim ersten flüchtigen Blick habe ich den, auf den es ankommt, gar nicht gesehen. Maria dominiert das Bild, von ihr ging mein Blick zu Josef, dann zu den Engeln zwischen ihnen. „Da fehlt doch was“, ging es mir durch den Kopf, bevor ich Jesus sah, klein, unscheinbar, leicht zu übersehen: „… aber die Welt erkannte ihn nicht.“
Ich glaube nicht, dass dem mittelalterlichen Künstler die Proportionen seines Altarbildes misslungen sind. Im Gegenteil, ich glaube vielmehr, dass er in seiner Art der Gestaltung das Geheimnis von Weihnachten zum Ausdruck gebracht hat. In einem Zitat heißt es: „Das Geheimnis der Weihnacht besteht darin, dass wir auf unserer Suche nach dem Großen und Außerordentlichen auf das Unscheinbare und Kleine hingewiesen werden.“
Ein Satz, den ich mir zu Weihnachten immer wieder sagen muss. Denn viele neigen heute zur Übertreibung. Weihnachten ist riesig geworden in den Straßen, bei den Geschenken. Manche rüsten ganze Häuser um, zumindest die Fensterfronten. Als sollte uns die Botschaft vom Glanz Gottes eingehämmert werden. Oft ist alles so groß geworden, dass alles Kleine und Unscheinbare darunter verschwindet.
So klein macht sich Gott, dass wir ihn übersehen können. Ich glaube, der Künstler dieses Altars hat die Größenverhältnisse so drastisch dargestellt, damit uns das Wichtigste an Weihnachten in der Kleinheit des Kindes in die Augen springt. Gott wird Mensch, klein, hilflos, bedürftig. Dadurch kann in meinem Leben nicht alles bleiben, wie es ist. Dadurch ändert sich meine Perspektive – gewaltig: Bei allem, was mir wichtig erscheint und oft auch wichtig ist, darf und muss Gott an die erste Stelle treten.
Mit dieser Perspektive erscheint vieles in einem anderen, einem helleren Licht. Ich darf oftmals gelassener sein, denn Gott tritt für mich ein, er hat die entscheidende Frage von Leben und Tod längst im besten Sinne geklärt. Mehr brauche ich nicht, um nach den Festtagen wieder in den Alltag zu gehen.
Ich lade Sie ein, noch einen Blick auf das Weihnachtsbild zu werfen: Jesus streckt sich nach Maria aus. So unglaublich es klingt: Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, streckt sich aus nach uns, seinen Geschöpfen und bittet, ja, fleht um unsere Zärtlichkeit und Liebe, möchte in unseren Armen geborgen sein. Hilflos wird Gott Mensch. Er schämt sich nicht seiner Machtlosigkeit. Und wenn sich Gott seiner Armut, seinem Wunsch nach Liebe, seiner Hilfsbedürftigkeit nicht schämt, warum geben wir uns dann so oft stark, obwohl wir schwach sind, unnahbar, obwohl wir Hilfe brauchen, unabhängig, obwohl alles in uns nach Liebe und Zärtlichkeit schreit?
Mit freundlichen Grüßen
Michael Tillmann
Michael Tillmann
Seit fast dreißig Jahren Redakteur, Lektor und Marktmanager für den Bereich Kirche im Bergmoser und Höller Verlag AG.

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