Jeder weiß, was ein Christ ist. Also theoretisch. Das Wort ist einfach zu verstehen, doch was genau dahintersteht, ist nicht direkt offensichtlich. Zudem gibt es so viele verschiedene Arten, Christ zu sein. Wir versuchen uns an einer möglichen Erklärung:
Taufschein- und anonyme Christen
Auf die Frage: „Wer ist ein Christ?“ könnte man kurz antworten: „Christ ist, wer an Jesus Christus glaubt, nach diesem Glauben zu leben versucht, daher getauft und so Mitglied der Kirche ist“. Doch so einfach ist es nicht. Zwar gilt jeder als Christ, der getauft ist, aber viele sind das nur dem Namen nach; sie sind nur „Taufscheinchristen“, aber keine „Lebenschristen“. „Christ“ heißt man nämlich nach Jesus Christus. Daher sollte nach alter christlicher Überzeugung der Christ ein „zweiter Christus“ sein, also so denken und handeln wie Christus. Wie aber Menschen unmenschlich sein können, so können auch Christen unchristlich handeln. Daher kann keiner am Leben der Christen selbst einfach ablesen, was echtes Christentum ist.
Andererseits denken und handeln auch ungetaufte Menschen, die also nicht zu den Christen gezählt werden, nicht selten so, wie es echtem Christentum entspricht. Da sie dennoch dem Namen nach nicht Christen sind, hat man sie „anonyme Christen“ genannt („anonym“ = „namenlos“). Nach dem Wort Jesu: „Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt“ (Mt 7,21), genügt es aber keinesfalls Christ zu heißen, sondern es ist weit wichtiger, christlich zu leben, nämlich so, wie es Jesus Christus vorgelebt hat. Das kann man bewusst tun, indem man sich nach Christus richtet; aber auch ohne es zu wissen, können Menschen so leben, wie es dem Beispiel entspricht, das Jesus gegeben hat.
Ecce homo
Wenn man diese anonymen Christen berücksichtigt, wird klar, dass man die Menschheit nicht so schnell in Christen und Nichtchristen einteilen kann, wie das möglich ist, wenn man nur den Taufschein gelten lässt. Auch außerhalb der christlichen Kirchen findet sich nämlich christliches Leben, wie umgekehrt innerhalb der Kirchen auch Unchristliches angetroffen werden kann. Das gilt sogar von jedem einzelnen Christen, dass sich in seinem Leben Christliches und Unchristliches mengen, denn genau besehen lebt kein Christ immer so, wie er es als Christ sollte; er ist dann ein Stück weit oder zeitweise Nichtchrist. Die Front zwischen echtem Christentum und Unchristlichem trennt also nicht die Kirchenmitglieder von den anderen, sondern sie verläuft durch jedes einzelne Herz.
Darin kommen alle Menschen überein, dass sie ihr Vorbild Jesus Christus nicht erreichen, bestenfalls zu ihm unterwegs sind. Jesus Christus ist nämlich Vorbild für alle Menschen, ein Mensch, so wie Gott ihn will. Als Pilatus den mit Dornen gekrönten Jesus der Menge mit den Worten „Ecce homo“, „Seht, der Mensch“ vorstellte, verkündete er unwissentlich ein Programm. In Jesus, in dieser verspotteten Leidensgestalt, steht der Idealtyp Mensch vor uns. In seiner Bereitschaft, sich völlig selbstlos und bis zum Letzten für andere einzusetzen, verkörpert er eine Haltung, die für alle Menschen als Ziel gelten muss.
Echte Menschlichkeit
Jeder Mensch existiert nämlich nur in Ausrichtung auf andere. Der völlig auf sich Gekehrte wäre Unmensch. Christlich kommt das durch das Grundgebot zum Ausdruck: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“. Nur auf dieses Ziel hin kann man als Mensch leben, Mensch sein. Daraus ergibt sich zweierlei: Zum einen ist jeder, der so lebt, wie er es als Mensch sollte, weil er darin dem Vorbild Christi entspricht, ein anonymer Christ; er gehört zu Christus, selbst wenn er es nicht weiß und wahrhaben will. Zum andern hebt Christsein Menschsein nicht auf. Es setzt es voraus und vollendet es. Lücken in der Menschlichkeit können daher nicht durch Christentum ausgefüllt werden. Christentum kann und darf nie Ersatz für Menschlichkeit sein. Menschlich ist der Mensch aber nicht schon deshalb, weil er Christ heißt.
Das Zweite Vatikanische Konzil lehrt zudem, dass nicht nur Angehörige anderer christlicher Kirchen, sondern auch Juden und Moslems und alle Gottsucher „das ewige Heil“ erlangen können; es stellt sogar fest: „Die göttliche Vorsehung verweigert auch denen das zum Heil Notwendige nicht, die ohne Schuld noch nicht zur ausdrücklichen Anerkennung Gottes gekommen sind“ (Konstitution über die Kirche, I, 16).