Für die obdachlose Gerda bedeutet Yoga – einmal in der Woche – das pure Glück; eine Möglichkeit, wieder anzuschließen.
Unter dem "Panzer" aus Wolle
Für diese eine Stunde lebt Gerda. Neuerdings. Die eine Stunde gibt es erst seit ein paar Wochen. Am Anfang war es mühsam. Gerda scheute sich, dort hinzugehen. Genauer gesagt: Gerda schämte sich. Sie ist obdachlos. Seit einem Jahr. Seit zwei Wintern, wie man auch sagen kann. Was ihr noch gehört, trägt sie am Leib. Sie sei ein Weißkohl, sagt sie. Sie trage eine Schicht auf der anderen, um bloß nicht zu frieren. Jetzt, nach dem zweiten Winter, hat sie schon mehr Erfahrung mit Orten, an denen es weniger zieht oder nicht so kalt ist.
Wenn sie in der Innenstadt beim Betteln jemanden sieht, den sie womöglich kennt, schaut sie weg. In ihr Herz. Unter der vielen Wolle.
Für diese eine Stunde in der Woche lebt Gerda
Aber für die eine Stunde heute lebt Gerda. Alles andere im Leben ist Schwerstarbeit. Heute kommt das Glück, der wirkliche Traum. Es ist, als würde ihr das Herz golden gemacht. Gerda hat Yoga. In einem schmucklosen Raum in der Innenstadt. Im Obdachlosenheim. Erst waren sie nur zwei. Jetzt sind sie neun. Zwei Männer sind dabei. Sie sitzen auf Stühlen. Eine junge Frau lehrt sie, sich zu bewegen. Es ist einfaches Yoga. Sie liegen nicht auf dem Boden.
Aber das Herz geht ihnen auf. Ihre Körper bewegen sich. Richten sich nach hier und da. Müssen lachen. Luft holen. Sich ansehen. Wirken ungelenk. Aber niemand lacht mehr über andere. Sie lachen über sich. Sie sehen auch zu lustig aus in ihren Wollsachen. Nicht alles wollen sie ausziehen. Gerda kann es kaum in Worte fassen. Ihr Körper findet bei den Bewegungen zu einer Ruhe, das ist wunderbar. Die junge Frau, die sie alle jede Woche einlädt, tut Wunder. Dass Gerda auch hingeht, ist das nächste Wunder. Eigentlich versteckt sie sich lieber, seit sie ganz unten ist.
Körpergefühl. Gerda könnte weinen vor Glück.
Da ist sie aber nicht, wenn sie hier sitzt. Und ihren Körper bewegt. Ihren Körper wieder fühlt, muss es genau heißen. Das ist es, was Gerda hier findet: Körpergefühl. Gerda könnte weinen vor Glück. Hier gibt man ihr Wert. Hier ist sie wer. Es kommt ihr vor, als würde man ihr das Herz vergolden. Vergolden mit Ruhe – wie mit Himmel. Gerda hat nicht mehr dieses Puppengefühl. Als bestehe sie nur aus Wolle.
Gerda ist wieder ein Mensch mit Haut, Herz und Seele. Man erkennt unter der vielen Wolle die Gerda, die sie ist. Und die sich beim Bewegen auf dem Stuhl wie Gerda fühlt. Wie Gerda mit dem goldenen Herzen. Die dann wieder auf die Straße geht, bettelt und einen Schlafplatz sucht. Aber anders als gestern. Gerda fühlt sich als Mensch. Und dankt dem lieben Gott immer vor dem Einschlafen innig für die junge Frau, die sie alle jede Woche einmal einlädt. In den schmucklosen Raum in der Innenstadt. Zum Weißkohl-Yoga. So denkt Gerda. Ist dabei aber schon eingeschlafen. Mit gefalteten Händen.
Mit freundlichen Grüßen
Pfarrer Michael Becker

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