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Gott im Alltag – Zahnbürste und Freiheit

© Michael Tillmann

Ich bedenke zum „Tag der deutschen Einheit“ am 3. Oktober eine Rede, die die Schriftstellerin Herta Müller im Juni 2022 gehalten hat. *

Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin

Ihr halbes Leben hat sie in einer Diktatur gelebt, die deutsche Schriftstellerin Herta Müller. Das war in Rumänien, unter Ceaușescu. Sie gehört zu den „Banater Schwaben“, einer Gruppe von Deutschen, die einst nach Rumänien ausgewandert waren. Als Frau Müller dann Ende der 1980er Jahre nach Deutschland kam, wurde sie bald eine berühmte Schriftstellerin und 2009 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Gerade hat sie ein neues Buch veröffentlicht, in dem sie eine Geschichte erzählt von „Zahnbürste und Freiheit“.

In der Zeit der Diktatur in Rumänien, erzählt Frau Müller, habe sie immer eine Zahnbürste in ihrer Handtasche gehabt. Für sie war das ein Symbol der Unterdrückung. Jeden Tag konnte man abgeführt und verhört werden. Falls sie dann nicht wieder hätte heimgehen dürfen, hätte sie vorsichtshalber ein Zahnbürste in ihrer Tasche für den Abend und den Morgen im Gefängnis.

Als sie 1987 in den Westen gekommen sei, war die Zahnbürste immer noch in ihrer Tasche. Aber nach ein paar Tagen wurde ihr die Handtasche gestohlen. Man fand die Tasche zwar nach ein paar Tagen, aber die Zahnbürste war nicht mehr drin.

Kleine Geschichte des Glücks

Frau Müller erzählt diese kleine Geschichte als eine Geschichte des Glücks. Sie empfindet, dass ihr das Mittragen der Zahnbürste Glück gebracht hat – sie wurde nie über Nacht im Gefängnis behalten. Und auch der Verlust der Zahnbürste war für sie Glück. In Freiheit brauchte sie keine Zahnbürste mehr mit sich zu tragen. Sie sagt am Ende ihres kleinen Textes: Wahrscheinlich weiß sie (die Zahnbürste) besser als ich, dass das Leben in einer Demokratie sowieso ein Glück ist.

Wir sollten uns von dieser erfahrenen Frau sagen lassen, welches Glück wir haben, in einer Demokratie leben zu dürfen; in einem Land mit Meinungsfreiheit, Reisefreiheit und einem Rechtsstaat. Es gibt bei uns keine Willkür in Sachen Recht.

Das ist ein Grund zur Dankbarkeit. Viele werden sich noch erinnern, dass es im Osten unseres Landes anders war bis zum November 1989; und erinnern sich wohl auch an das große Aufatmen, als unser Land wieder vereint wurde am 3. Oktober 1990. Damals sangen wir mit großem Ernst in vielen Gottesdiensten (EG 321): „Nun danket alle Gott.“ Es war Gnade, dass wir vereint wurden und die Schrecken des Dritten Reichs und seiner Folgen überwinden durften.

Wir sollten uns das im Herzen bewahren – dieses Gefühl der Freiheit und des Glücks auf Recht. Nie sollten wir uns das nehmen lassen – von niemandem. Gott möchte uns frei und möglichst glücklich.

Daran hat unsere Staatsform erheblichen Anteil. Gott möge uns beistehen, dass wir für die Demokratie kämpfen und sie uns erhalten.

Mit freundlichen Grüßen

Pfarrer Michael Becker

Pfarrer im Rundfunk und Herausgeber der WERKSTATT für Liturgie und Predigt im Bergmoser & Höller Verlag.
Autor Pfarrer Becker

* Die Rede findet sich in:   Herta Müller, „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“, Hanser Verlag 2023, Seite 101 bis 105

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