Kleine fastenzeitliche Schule des Sehens
Wir möchten Jesus sehen – ein verständlicher Wunsch, den einige Griechen im Evangelium äußern. Es gab kein Fernsehen, kein Internet noch Fotos, sich selbst ein Bild zu machen. Der persönliche Augenschein, die Begegnung von Angesicht zu Angesicht war die einzige Möglichkeit. Das Sehen, der persönliche Augenschein haben auch heute – in einer Welt der Bilder – nichts von ihrer Bedeutung verloren.
Ich kann mich an ein persönliches Erlebnis vor rund zwanzig Jahren erinnern: 2005 besuchte ich mit meinem Sohn im Rahmen des Weltjugendtages die Vigil auf dem Marienfeld. Wir hatten einen Platz ziemlich weit hinten. Mir persönlich war klar, dass wir Papst Benedikt XVI. nur auf einer der Großleinwände sehen würden, doch mein Sohn war wohl stillschweigend davon ausgegangen, ihn wirklich sehen zu können und seine Enttäuschung war dementsprechend groß. Der persönliche Augenschein ist dem Menschen wichtig.
Jesus sieht das ganz anders. Auf den Wunsch der Griechen antwortet er mit dem Bildwort vom Weizenkorn, das für uns zu einer Schule des Sehens werden kann. Wenn wir Jesus sehen möchten, sollen wir nicht – oder zumindest nicht allein – auf das Kind in der Krippe schauen, nicht auf den, der Kranke heilte, Brot vermehrte und selbst Tote auferweckte. Wir sollen auf den schauen, der über die Erde erhöht, ans Kreuz genagelt wird; der für uns sein Leben gibt, um uns allen ewiges Leben zu schenken. Das ist das Entscheidende. Darauf kommt es an. Ohne Tod und Auferstehung Jesu bliebe sein Leben ein Prolog, unvollendet. Das ist unser Glaube. So lehrt uns Jesus, auf ihn zu sehen. Ich möchte versuchen, diese Schule des Sehens in sechs kleinere Übungen zu packen, die vielleicht helfen können, für die nächsten Wochen und darüber hinaus eine neue Sichtweise zu gewinnen.
1. Übung: Jesus sehen zu wollen, heißt auch, sich selbst mit anderen Augen zu sehen. Ich bin nicht so perfekt und so toll, wie ich mich vielleicht gerne sehe. Ich habe Fehler und ich kann zu diesen Fehlern stehen, weil Gott mich liebt, auch ohne, dass ich perfekt und toll bin. Auf Jesus zu sehen, heißt den Gott zu sehen, dessen liebender Blick mich heilt. Glauben heißt nicht, Gott zu sehen, sondern darauf zu vertrauen, dass Gott mich sieht.
2. Übung: Die zweite Lektion lernen wir im Evangelium. In der Geschichte von Jesu Wandel auf dem See und von Petrus, der ihm entgegengeht. Solange Petrus seinen Blick auf Jesus richtet, kann auch er auf dem Wasser gehen. Als er jedoch seinen Blick auf die stürmischen Wellen lenkt, geht er unter. Versuchen wir daraus zu lernen, uns auf Jesus zu konzentrieren und nicht auf Sorgen und Ängste, damit sie nicht größer werden, als sie sind und uns verschlingen.
3. Übung: Aufmerksamer durchs Leben zu gehen. Auf das zu achten, was uns Schönes geschenkt wird – in der Schöpfung, im gemeinsamen Feiern des Glaubens, in tätiger Nächstenliebe (Exkurs: Jesus können wir immer auch erkennen im Antlitz des Nächsten). Das viele, was uns geschenkt wird, zu sehen und dafür dankbar zu sein, kann uns helfen, auf das zu vertrauen, was wir nicht sehen können.
4. Übung: „Durch eine Träne kann man oft weiter sehen als durch ein Fernrohr“, sagt Peter Hahne. Wir können Jesus sehen, wenn wir uns auf das Leid des Nächsten einlassen, mit dem Herzen einlassen, mit dem man ja bekanntlich am besten sieht. Mitzuleiden und uns unserer Tränen nicht zu schämen.
5. Übung: Wir können Jesus nicht so sehen, wie es die Jünger konnten und die Griechen im Evangelium wollten. Doch wir können denen glauben, die Jesus gesehen und das erlebte aufgeschrieben haben. Wir können es nachlesen in der Bibel. Nicht nur Augenzeugenberichte, sondern Glaubenszeugenberichte und deshalb so wertvoll.
6. Übung: Ich möchte diese kleine fastenzeitliche Schule des Sehens mit einem Zitat von Charles Haddon Spurgeon beenden, einem der bekanntesten Prediger des 19. Jahrhunderts. Ein Zitat, das auch als Überschrift über allem stehen könnte: „Wir müssen glauben, um schauen zu können; nicht sehen wollen, um glauben zu können.“
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Michael Tillmann
Michael Tillmann
Seit fast dreißig Jahren Redakteur, Lektor und Marktmanager für den Bereich Kirche im Bergmoser und Höller Verlag AG.
